Wenn ich am Rennradfahren Gefallen finde, kann ich doch von meinem Freund und Chefredakteur Martin Grüning ein wenig Respekt erwarten, oder?

Uns war nicht bewußt, welche Bedeutung hinter dem Col de la Bonette hat. Doch als wir um die letzte Kehre bogen, gab es nur noch eines: blankes Entsetzten! Ursprünglich hatten wir die mit 2802 Metern höchste geteerte Straße Europas nicht auf unserer Liste – einfach deshalb, weil wir sie nicht kannten. Im Grunde war sie nur eine Notvariante, eine Art Abkürzung. Das Problem war auch nicht der Pass, sondern eine Hotelbuchung. Diese hatte ich schon vor Wochen für die längere, ursprüngliche Tour getätigt. Nach der Umplanung über den La Bonette konnte ich das Hotel nicht mehr stornieren. Wir mussten nur 20 Kilometer in die entgegengesetzte Richtung radeln, das Tal runter, um zum gebuchten Hotel zu gelangen. (Geld gespart, Schwabe eben). Am nächsten Tag, klar, dieselben 20 Kilometer wieder hinauf. 

Als ich das im Vorfeld auf der Karte studierte, sah das völlig undramatisch aus: „lockeres Einradeln“ mit einer mäßigen Steigung von drei bis fünf Prozent. Was ich jedoch unterschätzt hatte, war, dass es noch mal 20 km bis zum Passeinsteig in St. Etienne de-Tinée waren. Aber ehrlich: leichte Steigung, lockerer Tritt, nichts weiter. Der Pass: 25 Kilometer, acht bis zehn Prozent Steigung, bis maximal 16 Prozent. So stand es zumindest auf einem Schild vor der ersten Kehre. 

Um es kurz zu machen: der Pass ist ein Traum. Anstrengend, ja , aber landschaftlich ein Leckerbissen. Wir ließen Kilometerschild um Kilometerschild hinter uns, mal mit  acht Prozent Steigung, mal mit neun. Von 16 Prozent keine Spur. Doch als wir auf dem zweitletzten Kilometer um eine langgezogene Kurve fuhren und der Blick auf den Pass frei wurde, sah ich die Rampe. Wie mit einer Fräse hatten die Straßenbauer sie in den Fels gehauen. Das Beste also kam zum Schluß: 16 Prozent. Ich testete meine Schaltung. Nein, es war kein Ritzel mehr zu finden, das mir Erleichterung verschafft hätte. Ich fuhr bereits seit zwei Stunden im kleinsten Gang. Den ersten Versuch, die 16 Prozent über 600 Meter zu meistern, brachen wir ab (leichtes Ziehen im Oberschenkel) und ließen uns zum letzten Kilometer Schild rollen. Dort war es weniger steil, nur neu Prozent, geradezu flach. Kurzes Durchatmen. Konzentration. Los. 100 Meter, 200 Meter, 300 Meter. Ein Krampf. Oberschenkel. In letzter Sekunde kam ich aus den Klickpedalen. Meine Frau fuhr weiter. 

Ich schob mein Rennrad die Rampe hoch. Oben stand eine Gruppe Motorradfahrer. Alle schauten mir entgegen, wie ich langsam, mein Rennrad schiebend, aufwärtshumpelte. Ich erinnerte mich an die Szene aus dem Film „Cool Runnings“, als die Jungs aus Jamaika ihren Bob die Eisrinne hinunter tragen und das Publikum zu applaudieren beginnt. Ich blickte nach oben und sah, wie die Motorradfahrer ihre Helme abnahmen, sie auf den Motorrädern ablegten, einen Spalier bildeten und applaudierten. Laut und rhythmisch, um mich auf dem Col de la Bonette in Empfang zu nehmen. Mir kamen vor Rührung die Tränen. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich je derart gefeiert worden war. Oben angelangt, erwachte ich aus meinem Tagtraum. Tränen hatte ich nur wegen meines schmerzenden Oberschenkel in den Augen. Tatsächlich baute sich ein sehr übergewichtiger Motorradfahrer mit seiner noch viel übergewichtigeren BMW vor mir auf, legte mir (väterlich) die Hand auf die Schulter und sagte ganz leise „Respekt“. Dann startete er sein Ungetüm und fuhr davon. 

Und die 5000 Meter Challenge? 19:06 Minuten im Monat August. Allerdings nicht am 31.08. gelaufen, sondern wegen der Rückreise erst am 01.09. Ob das trotzdem zähle, frage ich den Oberschiedsrichter und Chefredakteur Martin Grüning. Seine Antwort: „Natürlich nicht! Auf keinen Fall.“ Mal unter uns, in solchen Momenten wünsche ich mir manchmal einen wirklich übergewichtigen Motorradfahrer als Chefredakteur.