Neidisch beäugte der Kolumnist vom Rad herunter die Läufer auf der Prater Hauptallee in Wien. Es waren weniger als erwartet. Er wäre gerne dabei gewesen.
Es waren vier Grad, Nebel hing über der Stadt und ich fuhr mit dem Rennrad dick eingepackt los. Die Idee war, auf der Prater Hauptallee in Wien, einer
4,3 Kilometer langen Geraden, mit dem Rad ein wenig hin und her zu fahren. Bewegung eben, an der frischen Luft, Laufersatz. Klingt langweilig, doch Martin Grüning, der Optimist, schrieb begeistert: „Dabei kannst du Läufer beobachten und danach ein Buch darüber schreiben.“
Gesagt, getan: Als ich auf den „Unter-2-h-Kurs“ einbog (du erinnerst dich, Eliud Kipchoge und so), lief ein kompakter Mann in Shorts und Muskelshirt im Vollsprint fast in mich hinein. Er raste 50 Meter die Allee hinunter. Plötzlich blieb er stehen und stützte sich erschöpft auf die Knie. HIIT-Training war bei ihm angesagt. Sicher. Wenige Pedalumdrehungen später sah ich einen dick eingemummelten Typen mit leicht federndem Schritt. Er trug Kopfhörer. Im Takt der Musik vollführte er eine Art Tanz. Schatten-Boxkampf? Nur ein paar Meter vor ihm drei Damen und ein Herr beim Nordic Walking. Sie schwatzten, lachten und gingen (natürlich) nebeneinander. Ein unüberwindbares Hindernis. Das Aufeinandertreffen des tänzelnden Boxers mit den vier Walkern sah ich nicht mehr, war vorbeigefahren.
Ich schaute weiter nach Läufern und zählte auf zwei Kilometern 86. Macht auf der gesamten Länge der Hauptallee 192. Bei der Kehrtwende am Lusthaus entschied ich mich, nach rechts in Richtung Donauinsel abzubiegen. Was die Hauptallee für die Läufer ist, ist die Donauinsel für Rennradfahrer. 25 Kilometer lang. Keine Autos, nur Radwege. Doch bei vier Grad und Wind verirrt sich dorthin (fast) keiner. Ein Buch schreiben? Wollte ich unbedingt. Ein Motivationsbuch mit dem Titel: „Jeden Tag laufen – eine Geschichte des Scheiterns“. Ich wollte von meinem Versuch erzählen, als ich mir vornahm, in einem Jahr an jedem Tag zwölf Kilometer zu laufen. Immer auf derselben Runde. Ich weiß, jeden Tag ein Triathlon oder täglich auf dem Laufband rückwärts einen Marathon wäre spektakulärer, aber mir reichten diese 12 Kilometer. Schon nach drei Wochen streikte (mal wieder) meine Wade. So zählte plötzlich Nordic Walking für mich als Laufeinheit. Die Kunst lag nur noch darin, zwei Stunden pro Tag aufzubringen, um meine Lieblingsrunde zu walken. Ein Kinderspiel. Doch dann stellte ich fest, dass ich gar nicht jeden Tag zu Hause war. Nächste Regeländerung: Es zählt auch ein Lauf auf einer x-beliebigen Runde. Dann merkte ich, dass es Reisetage gab, an denen Laufen unmöglich war. Dazu gesellten sich Null-Bock-Tage. Eine neue Regel musste her: Laut Wissenschaft kann man Training nicht nachholen, bei mir ging das, ich durfte durch zweimaliges Training an einem Tag die Null-Bock-Tage reinholen. Je länger mein Laufprojekt dauerte, um so komplizierter wurden die Regeln. Allein das Regelwerk hätte zwei Kapitel umfasst. Wer will das lesen?
Auf der Donauinsel begegnete ich ein paar Anglern, zwei Eisschwimmern und 15 Radfahrern. Meine Zehen waren mittlerweile eingefroren. Zurück auf der Hauptallee und zum Laufen: Mein Sohn macht es in Sachen Motivation besser. Um regelmäßig im Training zu bleiben, spielt er Tennis. Das heißt, er zählt die Laufeinheiten wie ein Tennismatch. Wenn er an einem Tag läuft, geht er mit 1:0 in Führung. Läuft er nicht, macht sein Schweinhund den Punkt. So geht das hin und her. 1:1, 2:1, 3:1, 3:2 und er kann ohne Regeländerung im Match bleiben. Wenn wir telefonieren, sagt er: „Ich muss Schluss machen und laufen gehen. Das Match ist in einer kritischen Phase…“
Zur Kontrolle zählte ich auf dem Heimweg nochmals die Läufer. Auf zwei Kilometer waren es 91. Über den ganzen Tag sind auf der Hauptallee also lediglich 1600 Läufer unterwegs? Die Leute sollten mehr Tennis spielen!
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