Diesen Monat schreibt Dieter Baumann aus dem Urlaub. Den verbrachte auf einem Rennrad. Fahrrad fährt er zwar schon immer, aber auch das fiel ihm früher leichter

Der erste Streckenabschnitt rauf nach Alpe d’Huez ist der steilste, und bei jedem Kilometer wird dem Rennradfahrer angezeigt, was kommt. 11 Prozent Steigung verhieß das erste Schild. Ein Einstieg zu den berühmten 21 Kehren wie ein Hammerschlag. Natürlich fuhr ich vom ersten Meter an in der kleinsten Übersetzung: 34/30 [Anm. d. Red.: Als Übersetzung ­bezeichnet man das Verhältnis der Zähnezahl zwischen Kettenblatt vorn und Ritzel hinten. Dieses hat unmittelbaren Einfluss auf Kraftaufwand und Trittfrequenz.]. Rein in die zweite Kehre las ich: 11,5 Prozent. Früher, vor über 30 Jahren, radelte ich mit einer 38/26er-Übersetzung. In meinem Verletzungsjahr 1990 fuhr ich in 3:30 Stunden von St. Moritz über den Julierpass nach Tiefencastel und über den Albulapass wieder zurück nach St. Moritz. 100 Kilometer, zwei Pässe, mit 38/26! Heute brauche ich für die halbe Strecke mit einem Pass die gleiche Zeit.

Der dritte Kilometer bei Alpe d’Huez hat es endgültig in sich: 14 Prozent Steigung. Ich hätte ein Notfallritzel montieren sollen! 34/32 oder noch besser: 34/34. Heinz Betz, früherer Star der Rennradszene, erzählte mir: „Ich bin mit 42/23 das Stilfser Joch hochgefahren, hatte aber hinten noch ein 25er montiert.“ 25er, das Notfallritzel. Beim Laufen nennen wir so ein Notfall­ritzel „Gehen“, aber das nur am Rande.

Davon also träumte ich beim Aufstieg nach Alpe d’Huez: von einem Notfallritzel. Kehre um Kehre. 34/34. Das klang wie ein Rufen aus dem Paradies. Ein Gang, bei dem alles leichter wird. Die Aufstiege, die Kehren, die Kilometer, alles wird zum Kinderspiel. Allerdings gucken sich die Jungs und Mädels aus der Rennradszene gern auf den Ritzelkranz. „Ach, schau an: Kettenfett am Notfallritzel. Hast du es ­etwa benutzt?“ Bei mir, liebe Freunde des Radsports, ist es andersherum. Bei mir glänzt das 11er-Ritzel ganz ohne Fettfilm völlig unbenutzt. Wer fährt schon 34/11? Nein, mal ehrlich, für solche Albernheiten habe ich keine Zeit mehr. Ich kann mir nicht nur vorstellen, es zu benutzen, ich werde es tun. 34/34. Sehr gern sogar. Genauso, wie ich mir die Freiheit nehme, beim Laufen durch den Wald ab und zu zu gehen. Herrlich ist das. Man sieht mehr, hört mehr und riecht mehr in so einer Gehpause.

Im zweiten Teil des Anstiegs nach Alpe d’Huez wird es flach. Ja, im Gegensatz zu elf sind acht Prozent flach. Die Rekordzeit vom Kreisverkehr hoch bis zum Skiort beträgt 37 Minuten. Ich brauchte 1:25 Stunden. Nicht nachdenken, weiterfahren.

Neulich kam ich vom Dauerlauf auf meiner Lieblingsrunde, der 12-Kilometer-Schleife am Spitzberg, zurück. Ich hatte eine Stoppuhr dabei, was selten der Fall ist, und habe mitgestoppt, was grober Unfug ist. Ich brauchte für die zwölf Kilometer 1:11 Stunden. Es fühlte sich an wie immer: Wohlfühltempo, kein Gebolze, kein hoher Puls, netter Schritt. Wie vor 30 Jahren. Damals lief ich mit gleichem Aufwand und Gefühl 47 Minuten. 23 Minuten schneller!

Nächster Kilometer in Alpe d’Huez: 7,5 Prozent. Gut, früher fuhr ich die Alpenpässe mit 38/26 rauf, heute 34/30. Alles hat seine Zeit. Und die Erklärung ist so einfach: Mir fehlt die Kraft. Mal unter uns: Man nennt das „Älterwerden“. Ich kann trainieren, was ich will, ich werde immer langsamer. Ab Mitte 30 ging es los. Läuferisch war der Leistungshöhepunkt überschritten. So betrachtet kann ich mit fast 60 keinen Leistungssport mehr betreiben, denn ich kann trainieren, wie ich will, ich werde immer langsamer. Auch der intelligenteste Trainingsplan kann den biologischen Prozess nicht stoppen. Bei mir nicht.

Womit ich wieder beim Notfallritzel wäre. Unmittelbar nach der Rückkehr von Alpe d’Huez montierte ich mir ein 34/34er.Und ich benutzte es, oft sogar. Genauso wie ich ab und an beim Laufen gehe. Ich werde älter und versuche über den Sport möglichst alt zu werden. Das ist vielleicht auch Leistungssport, nur anders.