Der Körper gewöhnt sich schneller an die Bewegungsarmut, als wir glauben, und langsamer an die tägliche Bewegung, als wir hoffen, musste auch Dieter Baumann feststellen
Der Schlüssel zum Glück liegt in der täglichen Routine. Das weiß man. Vor allem gilt das für das Laufen. Haben wir einmal die schönste Sportart in unseren täglichen Ablauf integriert, findet sie einfach statt. Ohne nachzudenken. Doch jetzt, nach 6 Monaten Laufpause wegen Wade, hat es mein Körper akzeptiert: das Nichtstun. In meinem Kopf, Körper, oder was weiß ich wo, gibt es kein Geraune, kein schlechtes Gewissen über das Nichtstun. Aber noch viel schlimmer: Als ich versucht habe, nach dieser langen Pause, wieder mit dem Laufen zu beginnen, war überhaupt keine Vorfreude zu spüren. Kein „Endlich wieder raus!“ Im Gegenteil: Als ich nach meiner ersten Laufeinheit – wie immer das Altbewährte: eine Minute laufen, eine Minute gehen im Wechsel – zu Hause ankam und mir dachte, morgen wieder, spürte ich tatsächlich innere Widerstände. Woher kommt das?
Ich stellte mir eine Muskelzelle vor und malte mir aus, dass dort ganz viele Leutchen arbeiten, um unseren Körper in Betrieb zu halten. Von muskelbepackten Kerlen werden unaufhörlich Fette zur Energiegewinnung in den Ofen geschaufelt. Andere stehen mit Rucksäcken voller Zuckermoleküle bereit, um in Notfällen einzugreifen. Koordiniert wird das alles, so meine Vorstellung, von einem Planungsstab. Klar saßen in meinen Muskelzellen nur Leute, die Sport und Bewegung gleichsetzten mit Zufriedenheit und Wohlgefühl. Deshalb war es für mich über die Jahre so einfach, mich jeden Tag zu bewegen. Denn die Leute vom Planungsstab in jeder meiner einzelnen Muskelzelle – und wir haben viele Muskelzellen – waren davon überzeugt, dass die Lauferei einfach genial gut für mich ist. Jede Muskelzelle empfand das Gleiche wie ich: Laufen ist ein Stück Freiheit. Als ich also nach längerer Zeit wieder getrabt bin, hörte ich zu meiner Überraschung
andere Stimmen: „Das soll gesund sein? Was soll der Quatsch?“ Ja, ich hörte sogar, wie wissenschaftliche Erkenntnisse einfach ignoriert wurden. Bluthochdruck? Da gibt es Medikamente. Übergewicht? Eine natürliche menschliche Entwicklung. Als Gegenreaktion auf die neuerliche Lauferei ordnete der Planungsstab meiner Muskelzellen sogar einen saftigen (Achtung, Wortwitz) Muskelkader an. Offensichtlich, so meine Überlegung, hat sich die Zusammensetzung meiner Mannschaft in den Zellen mit dem langen „Nichtstun“ verändert.
Die Sportzweifler haben zugenommen. Natürlich, so stellte ich mir weiter vor, hatte die alte Zellen-Mannschaft, die aus dem Sport kam, mit guten Argumenten, die wir alle kennen, die bewiesen und ganz offensichtlich sind, dagegengehalten. Doch sie wurden niedergebrüllt. Meine Ansprüche, täglich zu laufen, zumindest mich zu bewegen, egal wie – Rad fahren, walken, Kräftigung –, waren zähe Verhandlungen mit mir selbst. Ich stellte mir vor, wie die vielen Arbeiter von den Zweiflern verunsichert wurden. Das süße Leben des Nichtstuns wurde verherrlicht. Zusammenhänge von Fetten, Bewegung, Kohlehydraten, wieder Bewegung, Enzymen und weiter Bewegung, Hormonen und (genau) Bewegung – dieses komplexe Zusammenspiel wurde infrage gestellt und die Parole ausgegeben: Nichts tun! So kämpfe ich um die Meinungshoheit in den Schaltzentralen meiner Muskelzellen. Ich könnte sagen, fragt doch das Auge, was es sieht, wenn es in den Spiegel schaut. Das müsste reichen, um zu wissen, warum es nicht egal ist, wie viel Fette in der Muskelzelle in den Ofen geschaufelt werden. Doch das Verrückte ist, mit jedem Schritt, den ich wieder laufe, überzeuge ich, Schritt für Schritt,
meine Schaltzentralen, dass Laufen ein Stück Freiheit ist. Verrückt ist auch,
nach 40 Jahren muss ich immer noch
darum kämpfen. Aber es lohnt sich.
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