An der steilsten Stelle überholten wir einen Läufer der Homberg Ren(n)tiere. In dicken Lettern stand es auf seinem Trikot. Doch das Homberger Ren(n)tier rannte nicht, es ging. Gehend Läufer sind für müde Läufer ein Problem…
Melsungen. Schwalm Eder Kreis. 13 513 Einwohner. Adventslauf. 10 Kilometer
Schon nach dem ersten Kilometer wusste ich: Es wird hart. „1:9“, brüllte mir mein Laufpartner beim Adventslauf in Melsungen ins Ohr. „Wie jetzt?“, fragte ich, „sind wir beim Handball?“ – „So zähle ich immer“, antwortet Michael Aufenanger, Organisator des Kassel-Marathons, ein wenig außer Atem. Ja, gleich zu Beginn ging es giftig bergauf. Da kann man schon mal ins Schnaufen kommen und ganz ohne Atmung kam auch ich nicht hoch. Am Abend vorher hatten wir telefoniert. Über die nordhessischen Buschtrommeln hatte er offensichtlich erfahren, dass ich mich zum 53. Adventslauf in Melsungen angemeldet hatte. „Komm doch auf einen Geburtstagskaffee vorbei“, sagte er. „Ach was, du hast Geburtstag? Dann lade ich dich zum Lauf nach Melsungen ein“, war meine Antwort. Und tatsächlich standen wir wenige Stunden später gemeinsam am Start.
1970 war übrigens die erste Ausgabe und wenn man das Bild des ersten Starts im Netz anschaut, also wirklich, die Hosen! Würde man das heute tragen kommt garantiert die Polizei. Ein Wahnsinn. Das Bild ist allerdings nicht vom Adventslauf, sondern vom Bartenwetzer-Lauf. Es ist die Adventslaufausgabe nur im Sommer. Der kleine Unterschied: es wird anders herum gelaufen. Ist das nicht genial? Im Sommer links rum, im Winter rechts rum. Bartenwetzerlauf heißt der Lauf deshalb, weil es in Melsungen im Mittelalter viele Waldarbeiter gab. Bevor sie in den Wald zur Arbeit zogen, wetzten sie ihre Äxte (Barten) an der Brücke in der Stadt.
„2:8“, rief Aufenanger. Nach dem schwachen ersten Kilometer in 5:30 Minuten auch der nur in 5:00 Minuten. „Mann, Mann, Mann. So wird das nichts mit den 50 Minuten“. Beim Telefonat hatte ich ihm den gemeinsamen Lauf als mein Geburtstagsgeschenk verkauft. Also, nur das Laufen an sich, das Startgeld musst er natürlich selbst bezahlen (ich bin ja Schwabe). Und ich hatte mit einem „fünfer Schnitt“ gedroht. „Schaffe ich“, war die Antwort
„3:7“. 5:30 Minuten. Von wegen „schaff ich“, raunzet ich Aufenanger an. „Zu langsam!“, rief ich ihm zu, als er eine Lücke zu mir aufreißen ließ.“Dranbleiben!“
4:6! Es ging runter. Endlich. 4:30 Minuten. Vor dem Rennen versuchten mich die Organisatoren zu beruhigen: „Die Strecke ist wirklich gut zu laufen, nur ein ganz kleinen Abschnitt ist matschig.“ Nach wochenlangem Regen, Graupelschauer und Schneefall war es natürlich mehr als „nur ein kleiner Abschnitt“, aber für mich als Wald.- und Wiesenläufer war die 5-Kilometer-Runde wunderbar.
„5:5, Ausgleich!“ Allmählich gefiel mir die Zählweise. Sie passte zu Melsungen. Handballhochburg.Die Männer spielen in der Handball-Bundesliga. Und just am Tag des Adventslaufes empfangen sie die Seriensieger aus Magdeburger. Unentschieden spielten sie. 29:29. Beim unserem Ausgleich, 5:5, ging das Rennen allerdings erst richtig los. „Bergab läuft immer“, sagte ich und merkte auf einmal: es ist möglich. 24:30 Minuten. Aufenanger feierte seinen 47. Geburtstag. Da war es doch Ehrensache, dass ich ihn in 47 Minuten ins Ziel bringen wollte. Das Problem war nur: er wußte nichts von meinen Plänen.
6:4! Zweite Runde, wieder der steile Anstieg. „Mach die Lücke zu“, rief ich. Sein Atem rasselte bedenklich. „Lauf ran. Lücke zu!“ Wir verloren Zeit.
7:3. Flachpassage. Rollen. Rollen. Rollen. „Gut. Guuuuuut!“
8:2! Zweiter steiler Anstieg. Ach was sage ich steiler Anstieg, in Wirklichkeit war es ein kurzes kleines Hügelchen. Doch Aufenangers Atmung war besorgniserregend. Natürlich machte ich mir keine Sorgen um seiner Gesundheit, sondern wegen der Zeit. Wir mussten die 47 Minuten schaffen! An der steilsten Stelle überholten wir einen Läufer der Homberger Ren(n)tiere. In dicken Lettern stand es am Trikot. Doch das Homberg Ren(n)Tier rannte nicht, es ging. Gehende Läufer sind für müde Läufer ein Problem. Weil sie dann denken: was der kann, kann ich auch. Ich versuchte das Geburtstagskind abzulenken.„Michael! Schau MICH an! Kurzer Schritt. Gut so. Weiter!“ Er blieb nicht stehen, war aber trotzdem langsam. So wird das nichts.
„9:1! „Langer Schritt. Runter. Fallen. Lassen. Langer Schritt. MICHAEL!“ Und plötzlich entwickelte er bergab tatsächlich einen langen Schritt. Da hatten die vielen Trainingslager, die er als Jugendlicher mit mir verbrachte hatte doch noch etwas gebracht. Ein Blick zur Uhr. Unglaublich. Es könnte reichen.
Zieleinlauf: Bergab. Zeitgleich überquerten wir die Ziellinie. Tatsächlich zeitgleich. 47:42 Minuten zum 47. Geburtstag. Aber das beste Geburtstagsgeschenk hatte ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Mit jemand zeitgleich und ohne Schlussspurt über die Linie zu laufen, solche Geschenke gab es bei mir, Freund hin oder her, früher nicht. Heute schon. Herzlichen Glückwunsch und schön war es in Melsungen.
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