Auch nach 40 Laufjahren will Dieter Baumann immer noch nicht wahrhaben, dass man Schmerzen nicht „weglaufen“ – also durch Laufen kurieren – kann, im fortgeschrittenen Alter noch viel weniger als in jungen Jahren

Neulich traf ich einen alten ­Bekannten. In unserer ­Jugend sind wir oft mitein­ander gelaufen. Ich meine, so richtig gelaufen – mit Temposachen, langen Dingern und allem Drum und Dran. Ich fragte ihn: „Wie läuft das Training?“ Traurig schüttelte er den Kopf und sagte: „Ich leide unter dem Running Blues. Es macht mir einfach keinen Spaß mehr.“ Er legte eine Pause ein, schaute mich an und fragte: „Aber das kennst du doch bestimmt auch?“ Aus Höflichkeit nickte ich mit dem Kopf.

Als ich zu Hause war, fragte ich erst einmal ChatGPT, was ein Running Blues ist. Man leide unter „innerer Anspannung, Frustration, Lustlosigkeit und einer gewissen Traurigkeit“, meinte die KI. Nein, das hatte ich wirklich noch nie. Das heißt, innere Anspannung, Frust und Traurigkeit kenne ich natürlich, aber das tritt nur auf, wenn ich nicht laufen kann.

Gerade jetzt bin ich in einer solchen Phase. Ich leide nicht unter einem Running Blues, sondern vielmehr an meiner Wade. Genauer an meiner Achillessehne, was vom Sprunggelenk kommt, oder von meiner Hallux-Zehe. Alles hängt ja irgendwie zusammen. Hallux, Sprung­gelenk, Wade – und am Ende schmerzt die Sehne. Diese spezielle Mixtur schlägt dann aufs Gemüt, auf den Magen oder man bekommt Rücken. Kennen Sie das? Bei mir war das schon immer so.

An dieser Stelle darf ich erwähnen, dass man mich eine Zeitlang mal den „Zeien-Dieter“ nannte. Warum? Weil ich einmal mit einem gebrochenen Zeh (auf Schwäbisch: Zeien) ins Trainingslager kam und trotzdem jeden Dauerlauf mitmachte. Damals herrschte noch die Meinung vor, dass man Schmerzen weglaufen könne. Das ging tatsächlich, denn irgendwann war der Zeien so taub, dass ich nichts mehr spürte. Aber natürlich klagte ich, und wie! Über den Zeien, die Sehne, die Wade und über mein Gemüt. Die Kollegen konnten das Wehgeschrei nicht mehr hören und nannten mich „Zeien-Dieter“. Viele meinten sogar, wenn das Wehklagen vor dem Training besonders laut war, würde ich immer besonders schnell laufen. Das war natürlich nicht so, denn besonders schnell lief ich immer, auch ohne Klagen und Zeien.

Wie Sie sehen, hat mich die Körperregion unterhalb meines Knies schon vom ersten Laufschritt in besonderem Maß begleitet. Meine Wade mitsamt der Sehne und ich sind wirklich gute Freunde geworden. Kein anderes Körperteil habe ich mehr gestreichelt, massiert und ihm gut zuge­redet als meiner Wade. Was ich aber nicht verstehe, ist, woher die immer wieder ­auftretenden Beschwerden heute kommen. Ich mache doch gar nichts mehr. Kein schneller Schritt, kein langer Lauf. Schonprogramm. Mein Körper müsste doch wissen, wie das geht.

Was ich heute mache, ist ein wenig Systemversorgung. Kontraktion einiger weniger Muskelstränge. Ein paar Nährstoffe hin und her transportieren, Sauerstoffversorgung, dazu Abtransport von Laktat. Ach was, bei meinem Tempo fällt das ja gar nicht mehr an. Interessanterweise funktioniert das über Wochen gut. Ach was, tadellos funktioniert das. Über Wochen ist alles im Takt, mir tut nichts weh. Doch dann, ohne Fremdeinwirkung, ohne unebenen Boden, ohne zu langes oder schnelles Laufen, plötzlich also, zieht es an der Sehne. Ohne Grund! Ein Ziehen. Am nächsten Tag ist die Sehne dick, und es ist vorbei: kein Laufschritt möglich. Das ist doch verrückt – oder besser: zum Verrücktwerden. Und dann, ja dann setzt bei mir der Running Blues ein: Frustration, innere Anspannung, Traurigkeit.

Halt, stopp. So weit lasse ich es gar nicht erst kommen. Ich erinnere mich an meine früheren Tage und probiere wieder das ­alte Hausmittel: Die Schmerzen laufe ich weg. Das funktioniert bis heute nicht, ich mache es aber trotzdem.