Wie jedes Jahr lief Dieter Baumann zum Jahreswechsel auf der Hauptallee im Wiener Prater und war zum ersten Mal der langsamste Läufer von allen, die dort unterwegs waren. Behauptet er zumindest.
Seit vielen Jahren laufe ich bei meinem jährlichen Weihnachtsbesuch in Wien am Heiligabend auf der Hauptallee des Praters. Und immer auf Tempo. In meinem ersten Leben als Wettkampfheini war es ein Tempodauerlauf über 15 Kilometer. Später dann, im zweiten Leben, als ich bequem wurde und nur noch Freizeitläufer war, reichten mir Tausender. Sechs bis acht Stück mit zwei Minuten Pause. Seit Kipchoge dort sein Unter-zwei-Stunden-Dingens gelaufen ist, weiß jeder, für Temposachen ist die Hauptallee in Wien immer eine Reise wert. Doch das ist für mich heute, in der dritten Phase meines Läuferlebens, nicht mehr wichtig. Heute bin ich dort angelangt, wo das Läuferparadies beginnt. Es geht um nichts mehr. Geschwindigkeit, Puls, Kilometer, alles egal. Hauptsache, ich setze ein Bein vor das andere.
Als ich mich in diesem Jahr zu meinem Heiligabendgewohnheitslauf unter die vielen andere Läuferinnen und Läufer mischte, geschah dann aber doch etwas, was mir wirklich noch nie passiert war. Ich überholte keine einzige Läuferin und keinen einzigen Läufer. Wirklich niemanden. Alle, ausnahmslos alle, liefen, trabten, ja, t-r-o-t-t-e-t-e-n an mir vorbei. Unglaublich, aber so war es.
Natürlich könnte ich jetzt die Ausrede aller Ausreden vorbringen: Verletzt. Seit sechs Wochen, seit Anfang November, streikte meine Achillessehne. Man nennt so etwas auch Übersprungsverletzung (der Schmerz ist von meiner Wade zur Sehne übergesprungen). Kein Lauftraining war mehr möglich. Ich hätte also einen guten Grund, warum, weshalb und überhaupt ich der Langsamste war. Aber nein, keine Ausreden. Ich stellte am Heiligabend einfach nur fest: Zum ersten Mal habe ich auf der Hauptallee niemanden, wirklich niemanden überholt. Punkt.
Haben Sie schon einmal den Werbespot von diesem neuen Shampoo „Grey Attack“ gesehen? Es soll graue Haare wieder schwarz färben. Einfach durch tägliches Haarewaschen. Ich komme deshalb darauf, weil der Grund, warum ich der Langsamste auf der Hauptallee war, mit meinen grauen Haaren zu tun hat. Ich bin alt geworden. Und das mit dem Shampoo hat drei Haken. Erstens: Ich hatte nie schwarze Haare und möchte auch keine. Zweites: Ich würde auch mit schwarzen Haaren ganz bestimmt keine Sekunde schneller laufen. Und drittens: Ich gehöre mittlerweile in diese Altersgruppe, die für die Werbewelt verloren ist. Seit 30 Jahren verwende ich das gleiche Shampoo, die gleiche Hautcreme, die gleiche Nudelmarke, das gleiche Salz. Und ich weiß, wo in meinem Supermarkt, in dem ich seit Jahren einkaufe, diese (meine) Produkte stehen. Es ist ein Segen. Rituale, Gewohnheiten, immer das Gleiche – ich weiß, ich bin ein Langweiler, aber es vereinfacht vieles.
Zum Beispiel den Tagesablauf. Manche schwören am Morgen auf einen Kaffee, andere gehen ohne eine Dusche nicht aus dem Haus, manche verzichten auf beides und holen sich den Kaffee auf dem Weg zur Arbeit immer an derselben Bäckerei und duschen am Abend. Auch bei mir hat das Duschen schon seit Jahren einen festen Platz. Es kommt gleich nach dem Training, schließlich bin ich durch den Sport sozialisiert worden, und wenn man täglich trainiert, kommt das Duschen nicht morgens und nicht abends, sondern immer nach dem Dauerlauf dran. So habe ich das gelernt, und so werde ich es mein restliches Leben beibehalten, wie Shampoo, Nudeln und Hautcreme. Ja, ich wiederhole mich gern, ich bin ein Langweiler.
Zurück zum historischen Dauerlauf auf der Hauptallee in Wien. Zum ersten Mal habe ich tatsächlich niemanden überholt. Bewegung hin, dritte Phase her, ich muss zugeben, es hat mich schon etwas geärgert. Der Höhepunkt kam dann aber nach dem Laufen. Duschen. Endlich.
Sehr geehrter Herr Baumann!
Gratuliere den besten Beitrag den ich je gelesen habe! Bin zwar viel jünger BJ 1966 aber ähnliches Schicksal Wadenpropleme aus der aktiven Zeit noch kann aber mit meinen Kindern noch laufen heuer alle am Start beim Wien Marathon Halb inclusive Schwiegertöchter nach dem Motto Gemeinsam statt Einsam in diesem Sinne wünsche ich Ihnen alles Gute und hoffentlich im nächsten Jahr mehr Erfolg in der Hauptallee mit sportlichen Grüßen Schwab Franz